Ein Mathematisches Modell des Weizmann Instituts könnte zu sicherer Chemotherapie führen

12.09.2012

Die Studie erklärt, warum bestimmte Patienten schwere Infektionen nach einer Chemotherapie entwickeln, und zeigt, wie sich eine solche Nebenwirkung verhindern läßt

Chemotherapien gegen Krebserkrankungen können das Leben retten, aber sie führen oft auch zu ernsthaften Nebenwirkungen wie erhöhte Infektionsgefahr. Bisher war das Blutbild das Hauptkriterium zur Einschätzung dieser Gefahr: Wenn die Zahl der weißen Blutzellen unter ein kritisches Niveau abfällt, gilt die Infektionsgefahr als hoch. Eine neue Methode, die von Mathematikern am Weizmann Institut in Zusammenarbeit mit Ärzten des Meir Medizinzentrums in Kfar Saba und der Hoffmann-La Roche AG in Basel in der Schweiz erstellt wurde, zeigt, dass sich eine korrekte Risikoeinschätzung nicht nur über die Zahl dieser Blutzellen sondern auch über ihre Qualität, die bei jeder Person anders ausfällt, erstellen läßt.

Diese Forschungsarbeit könnte einen wichtigen Schritt in der fortschreitenden Entwicklung einer personalisierten Medizin mit individuell zugeschnittener Chemotherapie darstellen. Sie könnte zu einer besseren Vorbeugung gegen Infektionen bei besonders gefährdeten Patienten führen und weniger gefährdeten Patienten unnötige Behandlungen ersparen.

Die Studie, die kürzlich im Journal of Clinical Investigation veröffentlicht wurde, brachte diverse Forscher aus verschiedenen Disziplinen wie Mathematik, Elektro-Ingenieurwesen, Onkologie, Immunologie und Pediatrie zusammen.

Das neue Modell enthüllt, wie das Immunsystem unter Bedingungen wie Neutropenie – ein gefährlich niedriges Niveau weißer Blutzellen, Neutrophile, funktioniert. Unter dieser Bedingung, die of nach einer Chemotherapie oder einer Knochentransplantation entsteht, können schwerwiegende Infektionen entstehen, wenn das Immunsystem nicht die wichtige Funktion der Bakterienbekämpfung übernimmt. "Unser mathematisches Modell hat bisher unbekannte Abläufe enthüllt, die für die Schwankungen der Empfindlichkeit für Infektionen bei Neutropenie-Patienten verantwortlich sind," sagt der Leiter der Forschungsstudie, Prof. Vered Rom-Kedar aus dem Fachbereich Informatik und Angewandte Mathematik am Weizmann Institut.

Das Modell schlägt vor, dass sich bei Neutropenie das Tauziehen zwischen Blutzellen und Bakterien nicht einfach durch eine simple Relation zwischen Bakterien und Blutzellen erklären läßt und auch nicht mit den quantitativen Ergebnissen, welche im Blutbild erreicht werden sollten. Wenn die Anzahl der Neutrophile niedrig ist, befindet sich das Immunsystem des Patienten in einem fragilen Gleichgewicht, das sich mit dem mathematischen Begriff "Bistabilität" bezeichnen läßt und das sehr leicht gestört werden kann, mit sehr dramatischen Folgen, wobei sogar minutenweise Veränderungen in der zahlenmäßigen Konzentration von Bakterien und Neutrophilen ausschlaggebend sind. Andere Faktoren, die das Gleichgewicht drastisch beeinträchtigen können, sind die Effektivität der neutrophilen Funktionsfähigkeit und der Durchlässigkeit des Gewebes für Bakterien, was sich aufgrund der Krebsbehandlung steigern könnte.

Gemäß des erwähnten Modells hat die Tatsache, dass die Effektivität der Neutrophile bei verschiedenen Personen unterschiedlich ist, keinerlei bedeutende Konsequenzen. Aber bei Personen mit Neutropenie kann dieser individuelle Unterschied über Leben und Tod entscheiden. Diese Schlußfolgerung stammt von einer Studie, die auf der Analyse von Blutbildern von vier gesunden Versuchspersonen basiert. Um das Modell in klinischen Tests anzuwenden, muss eine solche Analyse für eine große Zahl von Personen angewandt werden.

Das Modell hat bereits eine einleuchtende Erklärung für diverse medizinische Rätsel geboten. Es hilft beispielsweise bei der Klärung, warum bestimmte Patienten nach einer chemotherapeutischen Behandlung oder Knochenmarktransplantationen akute Infektionen entwickeln, obwohl ihre Neutrophilspiegel wieder relativ normal waren. Chemotherapie senkt sowohl diesen Spiegel als auch die Funktionsfähigkeit der Neutrophile, was die Gewebe für das Eindringen von Bakterien durchgängiger macht. Das Modell schlägt daher vor, dass bei einigen Patienten die Konzentration von Bakterien so schnell ansteigen kann, dass sie sich bis zum Anstieg der Neutrophilspiegel bereits voll etabliert haben und somit die Erholung der Neutrophile für eine Bekämpfung der Infektion nicht ausreicht. Dieses Szenario könnte erklären, warum in seltenen Fällen, in denen akute bakterielle Infektionen bei Patienten entstehen, die über eine normale immunologische Funktionsfähigkeit verfügen. Das Modell schlägt vor, dass in diesen Fällen die ungewöhnlich virulenten Bakterien die quantitativ und qualitativ geeignete Reaktion der Neutrophile dominieren.

Bestimmte rätselhafte Krankheitsfälle könnten sich anhand dieses Modells aufklären lassen – wie z.B. der Fall eines Neugeborenen, das sich am Meir Medizinzentrum von Neutropenie erholte, obwohl sein Blutbild einen niedrigen Neutrophilspiegel (ANC) von unter 200 Neutrophilen pro Mikroliter Blut aufzeigte, während ein Erwachsener, dessen ANC nach einer chemotherapeutischen Behandlung bei 380 stand, an einer Infektion starb. Das Modell zeigt inwieweit klinische Parameter wie die schlechte Qualität der Neutrophile zum Tod bei Erwachsenen führen können. Darüber hinaus könnte das Modell Ärzten dabei helfen, den Mechanismus hinter der Entwicklung schwerwiegender wiederholter Infektionen bei einigen Patienten zu verstehen. Von eintausend Patienten, die im Meir Medizinzentrum wegen solcher Infektionen behandelt wurden, ließ sich nur bei einem Drittel der Fälle eine Diagnose erstellen. Das mathematische Modell des Weizmann Instituts schlägt vor, dass sich zumindest ein Teil der ungelösten Fälle mit der Kombination aus verschiedenen geringfügigen Defekten, einschließlich unterschiedlicher Funktionsfähigkeiten von Neutrophilen und anderen Immunzellen, erklären läßt.

Die Forschungsarbeit wurde von Forschern in einer ungewöhnlichen Kombination wissenschaftlichen Wissens durchgeführt. Vorsitzende des Forschungsteams war die Mathematikerin Prof. Vered Rom-Kedar vom Weizmann Institut, die sich auf die Untersuchung dynamischer Systeme spezialisiert hat. Dr. Roy Malka, ein Elektroingenieur, der sich heute mit angewandter Mathematik beschäftigt, hat die Studie als Teil seiner Promotion am Weizmann Institut durchgeführt. Derzeit ist er Postdoktorand an der Harvard Medical School. Die Idee des Forschungsprojekts wurde zuerst von Dr. Eliezer Shochat, einem führenden Onkologen mit einem Doktorat in angewandter Mathematik vom Weizmann Institut, vorgeschlagen. Er arbeitet jetzt in einer Forschungsgruppe bei der Hoffmann-La Roche AG in Basel in der Schweiz. Die Studie wurde in Zusammenarbeit mit einem Team des Meir Medizinzentrums durchgeführt: Prof. Baruch Wolach, M.D., dem Leiter des Labors für Leukozytfunktionen und dem Vorsitzenden der Pediatric Immunology an der Sackler Medizinfakultät der Tel Aviv Universität, und der Laborleiterin Ronit Gavrieli, M.Sc., die die Experimente durchführte.
Prof. Wolach: "Unsere Studie schlägt vor, dass sich optimale Ergebnisse in der Anwendung von Chemotherapie bei Patienten mit oder ohne neutrophiler Disfunktion nur dann erreichen lassen, wenn die Qualität der Neutrophile des Patienten sowie die Bakterienkonzentration wiederholt geprüft werden. Diese Tests helfen dabei, die Zahl der Todesfälle und auch die Kosten für unnötige Krankenhausaufenthalte und teure Medikamente zu senken. Darüber hinaus lässt sich die Verabreichung von Antibiotika vermindern, was wiederum einen Anstieg der Antibiotika-Resistenz verhindert."
 

Prof. Vered Rom-Kedar leitet die Moross Research School of Mathematics and Computer Science. Ihre Forschungsarbeit wird finanziert vom Yeda-Sela Center for Basic Research. Prof. Rom-Kedar hält den Estrin-Familienlehrstuhl für Informatik und Angewandte Mathematik inne.
 

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