„Gehirn auf einem Chip“ enthüllt, wie sich das Gehirn faltet

12.08.2018

Physik und Biologie begegnen sich in einem neuen Modell der Gehirnentwicklung

Mit einer „tabula rasa“ – als unbeschriebenes Blatt – geboren zu werden, ist im Falle des Gehirns so etwas wie ein Fluch. Schon bei der Geburt sind unsere Gehirne faltig wie Walnüsse. Babys, die ohne diese Falten geboren werden – Smooth-Brain-Syndrom – leiden unter schweren Entwicklungsstörungen und ihre Lebenserwartung ist deutlich reduziert. Das Gen, das dieses Syndrom verursacht, half den Forschern des Weizmann Institute of Science kürzlich dabei, die physikalischen Kräfte zu untersuchen, die die Faltenbildung im Gehirn verursachen. In ihren heute in Nature Physics veröffentlichten Ergebnissen beschreiben die Forscher eine Methode, die sie entwickelt haben, um aus menschlichen Zellen winzige „Gehirne auf Chips“ zu züchten, die es ihnen ermöglichten, die physikalischen und biologischen Mechanismen zu verfolgen, die dem Faltenbildungsprozess zugrunde liegen.

Winzige Gehirne, die im Labor aus embryonalen Stammzellen gezüchtet werden – so genannte Organoide –, wurden in den letzten zehn Jahren von Profs. Yoshiki Sasai in Japan und Jürgen Knoblich in Österreich entwickelt. Prof. Orly Reiner von der Abteilung Molekulare Genetik des Instituts sagt, dass ihr Labor, zusammen mit vielen anderen, die Idee des Züchtens von Organoiden aufgegriffen hat. Nichtdestotrotz musste Dr. Eyal Karzbrun in ihrem Labor die Begeisterung etwas dämpfen: Die Größen der Organoide, die sie erhielten, waren alles andere als einheitlich; ohne Blutgefäße hatten die Innenseiten keine konstante Versorgung mit Nährstoffen und starben ab; und die Dicke des Gewebes behinderte die optische Bildgebung und die Mikroskopverfolgung.

So entwickelte Karzbrun einen neuen Ansatz für das Züchten von Organoiden, der es der Gruppe ermöglicht, ihre Wachstumsprozesse in Echtzeit zu verfolgen: Er beschränkte ihr Wachstum in der vertikalen Achse. So erhielt er ein „Pita“-förmiges Organoid – rund und flach mit einem dünnen Zwischenraum in der Mitte. Diese Form ermöglichte es der Forschungsgruppe, das sich entwickelnde dünne Gewebe darzustellen und alle Zellen mit Nährstoffen zu versorgen. In der zweiten Woche des Wachstums und der Entwicklung des winzigen „Gehirns“ begannen Falten zu entstehen und sich dann zu vertiefen. Karzbrun: „Dies ist das erste Mal, dass der Faltvorgang bei Organoiden beobachtet wurde, offenbar aufgrund des Aufbaus  unseres Systems.“

Karzbrun ist ausgebildeter Physiker und wandte sich naturgemäß physikalischen Modellen für das Verhalten elastischer Materialien zu, um die Entstehung der Falten zu verstehen. Falten in einer Oberfläche sind das Ergebnis mechanischer Instabilität – aufgrund von Druckkräften, die auf einen Teil des Materials einwirken. So kann z.B. bei ungleichmäßiger Ausdehnung in einem Teil des Materials ein anderer Teil zum Falten gezwungen werden, um dem Druck standzuhalten. In den Organoiden fanden die Wissenschaftler an zwei Stellen eine solche mechanische Instabilität: Das Zytoskelett – das innere Skelett – der Zellen im Zentrum des Organoids zog sich zusammen, und die Zellkerne der oberflächennahen Zellen dehnten sich aus. Oder, anders ausgedrückt, das Äußere der „Pita“ wuchs schneller als ihr Inneres.

Obwohl dieses Ergebnis beeindruckend war, war Reiner nicht davon überzeugt, dass die Falten in den Organoiden tatsächlich die Falten in einem sich entwickelnden Gehirn abbilden. So züchtete die Gruppe neue Organoide, diesmal mit den gleichen Mutationen, die bei Babys mit Smooth-Brain-Syndrom vorliegen. Reiner hatte dieses Gen – LIS1 – bereits 1993 identifiziert und seine Rolle im sich entwickelnden Gehirn und bei der Krankheit untersucht, von der eine von 30.000 Geburten betroffen ist. Das Gen ist unter anderem an der Wanderung von Nervenzellen zum Gehirn während der Embryonalentwicklung beteiligt und reguliert auch das Zytoskelett und die molekularen Motoren in der Zelle.

Die Organoide mit dem mutierten Gen wuchsen in den gleichen Proportionen wie die anderen, aber sie entwickelten nur wenige Falten und die, die sie entwickelten, waren in ihrer Form sehr verschieden von den normalen Falten. Ausgehend von der Annahme, dass Unterschiede in den physikalischen Eigenschaften der Zelle für diese Variationen verantwortlich sind, untersuchte die Gruppe die Zellen des Organoids mit Rasterkraftmikroskopie unter  Mithilfe von Dr. Sidney Cohen vom Chemical Research Support Department. Nach Maßstäben der Elastizität waren die normalen Zellen etwa doppelt so „steif“ wie die mutierten, die im Wesentlichen weich waren. Reiner: „Wir entdeckten einen signifikanten Unterschied in den physikalischen Eigenschaften der Zellen in den beiden Organoiden, aber wir beobachteten ebenso unterschiedliche biologische Eigenschaften. So bewegten sich die Kerne in den Zentren der mutierten Organoide langsamer, und wir sahen signifikante Unterschiede in der Genexpression.“

Schon vor Erscheinen des Artikels hat die wissenschaftliche Gemeinschaft großes Interesse an diesem neuen Ansatz für die Züchtung von Organoiden gezeigt. „Es ist nicht wirklich ein Gehirn, aber es ist ein gutes Modell für die Gehirnentwicklung“, sagt Reiner. „Wir haben jetzt ein viel besseres Verständnis dafür, wodurch ein Gehirn gefaltet wird oder, im Falle von Menschen mit einem mutierten Gen, wodurch der Faltvorgang ausbleibt.“ Die Forscher planen, ihre Methode weiterzuentwickeln, und sie glauben, dass sie zu neuen Erkenntnissen über andere Erkrankungen führen könnte, die mit der Gehirnentwicklung zusammenhängen, darunter Mikrozephalie, Epilepsie und Schizophrenie.

An dieser Forschungsarbeit nahmen außerdem Prof. Yaqub Hanna, der bei der Züchtung der embryonalen Stammzellen assistierte, und der Doktorand Aditya Kshirsagar in Reiners Gruppe teil.

 

Die Forschung von Prof. Orly Reiner wird unterstützt vom Helen und Martin Kimmel Institute for Stem Cell Research; dem Nella und Leon Benoziyo Center for Neurological Diseases; dem Kekst Family Institute for Medical Genetics; dem Dr. Beth Rom-Rymer Stem Cell Research Fund; der Dears Foundation; Hr. und Fr. Jack Lowenthal; dem Nachlass von David Georges Eskinazi; und dem Nachlass von Jacqueline Hodes. Prof. Reiner ist Inhaber des Bernstein-Mason-Lehrstuhls für Neurochemie.

Das Weizmann Institute of Science in Rehovot, Israel, ist eine der weltweit besten multidisziplinären Forschungseinrichtungen. Das Institut ist bekannt für seine breit gefächerte Erforschung der Natur- und exakten Wissenschaften und die Heimat von Wissenschaftlern, Studierenden, Technikern und anderen Mitarbeitern. Zu den Forschungsgebieten des Instituts gehören die Suche nach neuen Wegen zur Bekämpfung von Krankheiten und Hunger, die Untersuchung bedeutender Fragen der Mathematik und Informatik, Fragen der Physik der Materie und des Universums, die Entwicklung neuer Materialien sowie die Entwicklung neuer Strategien für den Umweltschutz

Neuigkeiten zum Weizmann Institute finden Sie online auf

http://wis-wander.weizmann.ac.il/ und auf http://www.eurekalert.org/

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