Mäusegruppen weisen komplexe Beziehungen auf

03.09.2013
In unserer modernen Umwelt voller Stimulation wird individuelles Verhalten (oder unsoziales Verhalten - je nach Wertung des Betrachters) gefördert, während eine einfachere Umgebung zu einem stärkeren Gemeinschaftsverhalten führt. Eine neue Forschungsarbeit des Weizmann Instituts zeigt, dass diese Betrachtungsweise – zumindest in Bezug auf Mäuse – der Realität entspricht: Mäuse, die in einer stimulierenden Umgebung aufwachsen, haben weniger komplexe soziale Verbindungen als solche, die unter einfacheren Bedingungen aufgewachsen sind. Diese Ergebnisse basieren auf zwei innovativen wissenschaftlichen Entwicklungen: Ein automatisches System verfolgt ununterbrochen Gruppen von Mäusen, die unter semi-natürlichen Bedingungen leben, und zweitens wurde ein mathematischer Rahmen erstellt, der diese Daten analysiert und es den Wissenschaftlern ermöglicht, die Natur des Sozialverhaltens der Mäuse im Detail zu charakterisieren.

Die Studie, die am Dienstag im Wissenschaftsmagazin eLife erscheint, entstand in Zusammenarbeit zwischen zwei sehr unterschiedlichen Gruppen im Fachbereich Neurobiologie am Weizmann Institut. Prof. Alon Chen ist ein Experimentator, dessen wissenschaftliche Arbeit sich mit Molekülen im Nervensystem befaßt, die das Verhalten beeinflussen, während Dr. Elad Schneidman ein Theoretiker ist, der sich mit den Charakteristika kollektiven Verhaltens in großen Neuron-Gruppierungen und anderen biologischen Systemen befaßt. Das experimentelle System, welches von beiden Gruppen gemeinsam entwickelt wurde, an dem auch Dr. Yair Shemesh, Dr. Oren Forkosh und Dr. Yehezkel Sztainberg und Dr. Tamar Shlapobersky beteiligt waren, glich einer großen "Arena", in der diverse Dinge untersucht wurden – Schlafnester, Futter- und Spielplätze usw. Das Forschungsteam beobachtete das Laufverhalten der Mäuse in vier aufeinanderfolgenden Nächten, wobei alle Aufzeichnungen bei ultravioletter Beleuchtung erfolgten, damit die normale Nachtaktivität der Mäuse ungestört blieb.

Vier Mäuse besuchten hauptsächlich zehn Regionen in der Arena, wobei insgesamt 10.000 mögliche Stationen vorhanden waren. Aber die Forscher bemerkten sehr bald, dass diese Daten durch die Beziehungen der Mäuse untereinander bestimmt wurden. Eine theoretische Berechnung legte die individuellen Vorlieben und Ängste der einzelen Mäuse zugrunde und kam somit auf 4000 mögliche Beschäftigungen, aber nur etwa die Hälfte dieser Beschäftigungen ereigneten sich tatsächlich.

Wieviel des Mäuseverhaltens basierte auf persönlichen Verbindungen? Um dies zu prüfen, muß man sich die Frage stellen, bis zu welchem Ausmaß die Information über den Ort einer bestimmten Maus es einem erlaubt, den Ort einer anderen Maus zu bestimmen. Als die Wissenschaftler diese Berechnungen bei Mauspaaren durchführten, konnte die Position einer Maus nur bis zu einer fünfprozentigen Ungenauigkeit aus der Lage der anderen Maus abgeleitet werden. Wenn sie alle anderen Mäuse in der Arena in ihre Berechnungen einschlossen, steigerte sich ihre Erfolgsrate um das Fünffache. Aber dies bedeutete, dass 75% der Information, die den Ort einer Maus festlegt, nichts mit den sozialen Beziehungen zu tun hat und es sich dabei einfach nur um individuelle Präferenzen handelte.

Um die relative Bedeutung der individuellen Persönlichkeit in Bezug auf die soziale Abhängigkeit zu evaluieren, muss ein mathematisches Modell der Statistik in der Physik angewandt werden, das sich "Maximum Entropie-Modell" nennt und das in vielen verschiedenen Forschungsarbeiten eingesetzt wird, um Daten über Beziehungen in komplexen Systemen zu analysieren und sich dabei in möglichst geringem Maße auf anfängliche Annahmen zu stützen. In diesem Fall analysierten sie die Bedeutung der Beziehungen unterschiedlicher Anordnungen – zuerst das Verhalten einer einzelnen Maus unabhängig von den anderen, dann das von Paarbeziehungen und dann von Dreier- und Viererbeziehungen.

Bei fast allen Systemen, die mithilfe dieses Modells analysiert wurden – einschließlich neuronaler und Proteinnetzwerken – kommen Beiträge zum Gruppenverhalten aus Paarbeziehungen. Es scheint, dass die soziale Aktivität bei Mäusen, zumindest oberflächlich betrachtet, auf Paarbeziehungen basiert: Jagen, Annähern, Kämpfen usw. Aber das Team fand überraschenderweise heraus, daß die Dreierbeziehungen etwa ein Drittel des Gruppenverhaltens bestimmten. Warum unterscheiden sich diese Beziehungen der Mäuse untereinander von biologischen Netzwerken? Die Wissenschaftler nehmen an, daß komplexe Sozialstrukturen zum Überleben entstanden sind und parallel dazu, die sozialen Tierarten zunehmend komplexere Mechanismen zum Umgang mit der Komplexität dieser Strukturen entwickelten.

Die Evolution sozialer Strukturen brachte die Wissenschafter auf die Frage nach der Umgebung: Wie beeinflußt die Umgebung, in der die Mäuse aufgewachsen sind, ihre sozialen Strukturen? Um diese Frage zu beantworten verglich das Forschungsteam zwei Arten von Mäusegruppen, eine, die mit einer großen Auswahl unterschiedlicher Stationen und Spielzeuge aufgewachsen ist, und eine andere, die unter den Bedingungen eines Standardlabors aufgewachsen war. Die Analyse mithilfe des mathematischen Modells enthüllte einen bedeutenden Unterschied: Mäuse, die in einer komplexen Umgebung aufgewachsen waren, eigneten sich weniger für soziale Aktivitäten und ihr Gruppenverhalten wurde vorwiegend durch Paarbeziehungen und weniger durch Dreierbeziehungen bestimmt. Im Gegensatz dazu legte die zweite Standardgruppe komplexere soziale Strukturen an den Tag und sie wurde sogar während des Experiments noch "sozialer", während die erste Gruppe keinen solchen Fortschritt zeigte. Die Wissenschaftler sagen, dass sich der Unterschied wohl daraus erklärt, dass eine reichere Gesellschaft den Individualismus fördert und die Notwendigkeit auf Abhängigkeit von der Gruppe mindert. Andererseits könnte eine komplexere Umgebung zu Agression und Dominanz ermuntern, die häufiger in Paarbeziehungen auftreten.

Dieses Forschungssystem – sehr sensitiv für Details der sozialen Struktur und basierend auf komplexen Beobachtungstechniken wurde der Molekularbiologie entliehen und könnten eine Vielfalt neuer Forschungsmöglichkeiten bieten. Einige der Fragen, die Chen und Schneidman stellen : Wie beeinträchtigen Mutationen in verschiedenen Genen das soziale Verhalten? Was ist mit dem Verhalten von Mäusen mit einer Überproduktion von Hormonen wie Oxytocin (Liebeshormon) oder Testosteron? Können Mäuse mit Verhaltensmustern wie Autismus oder Schizophrenie in bestimmten Umgebungen besser funktionieren? Wie lernen Gruppen von Mäusen in einer Gruppe? Diese Studie ebnet den Weg zur Lösung dieser Rätsel und wirft dabei aber auch gleichzeitig weitere Fragen auf.
 

Prof. Alon Chens Forschungsarbeit wurde finanziert von dem Nella and Leon Benoziyo Center for Neurological Diseases, dem Henry Chanoch Krenter Institute for Biomedical Imaging and Genomics, dem Europäischen Forschungsrat, von Roberto und Renata Ruhman in Brasilien, der Perlman Family Foundation, die von Louis L. Und Anita M. Perlman gegründet wurde, der Adelis Foundation und von Marc Besen und der Pratt Foundation.
 
Dr. Elad Schneidmans Forschungsarbeit wurde finanziert von der Jeanne and Joseph Nissim Foundation for Life Sciences Research, Herrn und Frau Lawrence Feis aus Winnetka, Illinois in den USA, der J & R Foundation und aus dem Nachlass von Toby Bieber.
 

The movements of mice dyed in different fluorescent colors are tracked in the darkened enclosure

 

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